Rede von Prof. Kai-Uwe Schierz, Direktor Erfurter Kunstmuseen, in der VBK Galerie Erfurt am 14. August 2001


Redewendungen wie "Es steht ihm ins Gesicht geschrieben" oder "Sein Blick kann es nicht verleugnen" gehören zu den üblichen rhetorischen Stereotypen unserer Unterhaltung, werden als solche kaum näher befragt und verweisen doch auf ein Phänomen, das Philosophen wie Künstler nachweislich seit Jahrtausenden bewegt: Denn das Gesicht des Menschen ist die Verbindungsstelle vom Ich zur Welt, von Innen nach außen und umgekehrt - computer­ neudeutsch könnte man es auch als Schnittstelle bezeichnen. Man kann aber auch inhaltlich weiter gehen und - mit Blick auf das Schauspiel und den Tanz- feststellen, dass eigentlich der ganze Körper, seine Oberfläche, die Haut, eine solche Schnittstelle darstellt, die von außen Kommendes nach innen leitet und Inneres nach außen. Der ganze Körper, also ein großes Wahrnehmungsorgan, und ein Mund, mit dem wir sprachlos sprechen.

 

Diesen Körperausdruck hatte beispielsweise der Philosophenkaiser Mark Aurel im Sinn, als er seinen sittlichen Anspruch an den Menschen formulierte, und zwar in einer Schrift,die uns unter dem Titel "Meditationen" überliefert wurde. Er schrieb:·„Denn wie Deine Seele auf Deinem Gesicht zu lesen ist und eben darum Deine Mienen zu beherrschen und zu formen weiß, so soll auch der ganze Körper ein Ausdruck der Seele sein.“

 

Dieser körperliche Ausdruck der Seele, heute verallgemeinern wir oft und sprechen vom Ausdruck unserer inneren Befindlichkeit, war nicht nur ein Leitthema für Anhänger der Signaturenlehre oder der Physiognomie bis hin zu Lavater, er bildete auch und gerade für die Zunft der Bildhauer durch die Jahrhunderte eine starke Herausforderung zur kommunikativen Formung - ich möchte hier nur an die zutiefst durchseelten Skulpture eines Veit Stoss oder Tilman Riemenschneider erinnern. Wenn man in diesem Zusammenhang von Realismus sprechen will, so muss das vor allem in Relation von Form und geistigem Ausdruck geschehen, nicht nur als Verhältnis von Vorbild und Bild. Mit ihren plastischen Arbeiten, die sich in besonderer Weise dem Verhältnis von Innerlichkeit und körperhafter Form widmen, stellt sich die 1964 in Jena geborene GiselaEichardt also in eine lange Tradition. Die ist zum einen in der Oberfläche präsent, denn wie die Griechen oder die frühneuzeitlichen Holzschnitzer verleiht auch Gisela Eichardt ihren Figuren eine farbliche Fassung, was ihnen eine ganz eigentümliche Weise der Lebendigkeit sichert. Aber auch in der Methode bleibt die Linie zur Tradition sichtbar. Ausgangspunkt des Gestaltprozesses ist in beiden Fällen das lebendige, wirkliche Repertoire an Formen und Stimmungen, ist das Bild des Menschen, das der Bildhauer einer umfassenden Übersetzungsarbeit unterzieht, woraus neue Formen der Symbolisierung erwachsen.

 

Hier ist aber schon der Punkt erreicht, der Tradition und Innovation voneinander scheidet. Statt mit Graphit, Kohle und Papier betreibt Gisela Eichardt ihre Studien am Menschen mit der Videokamera in der Hand. Auf diese Weise ist es ihr möglich, aus einer langen Sequenz von Bewegungen diejenigen heraus zu filtern, die Schwebezustände bezeichnen, Momente zwischen den eindeutigen Gesten. Und ganz so, wie sie aus der langen Reihe einer Videosequenz einzelne Stills captured, gleichsam als Etappen ihrer Erkundung, bilden auch Gruppen von Reliefs in ihrem thematischen und formalen Bezug aufeinander Reihen aus, die in ihrer Abfolge etwas Filmisches haben.

 

Ganz in diesem Sinne nähert sich Gisela Eichardt seit einiger Zeit auch ihrem Modell Yoko. Die kleine Ausstellung, die wir heute hier in der Galerie des VBK Thüringen eröffnen, präsentiert wiederum Ausschnitte aus diesem thematischen Komplex. Ausschnitte, die dem Raumangebot entsprechend sehr konzentriert ausfallen,jederzeit um weitere und auch größere Arbeiten erweitert werden könnten. In gewisser Weise bildet der Yoko-Komplex als Ganzes eine Art von Porträt, ist Erforschung des komplexen Ausdrucks der Tänzerin und bewusste Versammlung verschiedener Ansichten auf den Gegenstand, denn Gestik und Mimik bestimmen als Formvorgaben ganz wesentlich die Resultate der Gestaltung. Andererseits sieht man an den Einzelstudien aber auch, wie weit die Interpretation bzw. Übersetzungsarbeit- als Deutung und Neuerfindung - sich von ihrem Ausgangspunkt entfernen kann.

 

Vergleicht man die geprinteten Videostills mit den plastischen Arbeiten, tritt die Veränderung des Körperausdrucks im Sinne der Ausbildung zweier eigenständiger Deutungen deutlich hervor. Die Stills zeigen das Modell in tänzerischer Aktion, dynamisch und expressiv. Dem entsprechen als gestalterische Mittel die kontrastreiche Konturierung durch Licht und. Dunkel, die dynamische Verspannung des gezeigten Körpers im Format, leichte Bewegungsunschärfen und die oft harten Anschnitte der Figur durch die Formatgrenzen. Das Modell ist hier ganz Tanz gewordener Körper, faszinierend in seiner Ausstrahlung, bildet jedoch auch eine Sphäre der Unnahbarkeit um sich herum. In den plastischen Arbeiten überwiegt dagegen das Moment des Ruhens, der inneren Sammlung und Stille. Geradezu klassisch erscheint hier das Sujet im Format platziert, das Relief bleibt flach ausgeprägt, die Farbgebung erfolgt in gebrochenen Tönen und temperahafter Leichtigkeit, was durch die gleichsam transparente, atmende Oberfläche des Werkstoffs Gips noch unterstrichen wird. Die Gesamtstimmung ist lyrisch, gefasst, privat, introvertiert.

 

Gisela Eichardt gelingt es in ihrer Arbeit, die Spannungen zwischen den traditionellen Medien der Hand und der technisch bestimmten Moderne fruchtbar zu machen, indem sie deren unterschiedliches Ausdruckspotential heraus arbeitet und zur Deutung einer komplexen Persönlichkeit nutzt. Mir scheint das ein interessanter Ansatz, der es verdient, weiter verfolgt und auch mit Aufmerksamkeit begleitet zu werden.

 

K.-U. Schierz